Geschichte im Konflikt. 1944 – Ein Jahr zwischen den Fronten
Die Sicht auf das Jahr 1944 variiert in Osteuropa je nach Land oder Region sehr stark. Die Perspektiven hängen von den historischen Erfahrungen und Ereignissen ab. 1944 ereignet sich die Befreiung von der deutschen Besatzung – die Rote Armee ist auf dem Vormarsch in Richtung Deutschland und befreit bspw. die baltischen Länder, Belarus und die Ukraine. Damit folgt die Zeit unter sowjetischer Hegemonie. Nationalstaaten verlieren teilweise erneut ihre Unabhängigkeit.
Die Reihe Geschichte im Konflikt. 1944 – Ein Jahr zwischen den Fronten will die kontroverse Erinnerung an Befreiung, fortdauernde Besatzung und die damit verbundenen politischen und sozialen Veränderungen in den Blick nehmen.
Von Januar bis Juli 2024 möchten wir in sechs Veranstaltungen anhand verschiedener Orte auf das Jahr 1944 schauen – internationale Gäste werden auf die historischen Zusammenhänge sowie auf die Veränderungen und Konflikte in der Erinnerung eingehen.
Die Veranstaltungssprache ist Deutsch.
Programm
Eintritt frei
Für die Teilnahme melden Sie sich bitte an unter kontakt(at)museum-karlshorst.de
An den Veranstaltungsabenden sind die Ausstellungen des Museums bis zum Veranstaltungsbeginn um 19 Uhr geöffnet.
mit Prof. Dr. Jörg Ganzenmüller (Universität Jena)
und Dr. Andrea Zemskov-Züge (OWEN Berlin e.V.)
Am 27. Januar 1944 endete nach 900 Tagen die Belagerung Leningrads (heute St. Petersburg) durch die Wehrmacht. Bis heute ist die Erinnerung an Hunger, Kälte, Sterben und Überleben in das Gedächtnis der russischen Bevölkerung eingebrannt. Stand in der sowjetischen Zeit das zum heroischen Kampf stilisierte Ausharren in der Belagerung im Mittelpunkt der Erinnerung, sind es in jüngerer Zeit die menschlichen Tragödien und Opfer. Allein auf dem Piskarjowskoje-Friedhof sind 470.000 Tote beigesetzt, wobei die Gesamtzahl der Opfer auf über eine Million Menschen geschätzt wird. Die überlebenden „Blokadniki“ genießen bis in unsere Tage höchstes Ansehen.
Aus Anlass des 80. Jahrestags des Endes der Leningrader Blockade soll eine Bilanz der historischen Aufarbeitung des Ereignisses gezogen werden. Die Veranstaltung möchte einen Bogen schlagen von der Erinnerung an das Ereignis in der Zeit der Sowjetunion bis zur Beschäftigung mit der Leningrader Blockade im gegenwärtigen Russland.
mit Dr. Christoph Dieckmann (Frankfurt/Main, Universität Haifa)
und Dr. Gintarė Malinauskaitė (Institut für Geschichte Litauens, Vilnius)
Im Laufe des Jahres 1944 mussten sich die Deutschen aus Litauen, das sie im Sommer 1941 besetzt hatten, zurückziehen. Die Sowjetunion, die Litauen auf der Grundlage des Hitler-Stalin-Paktes 1940 annektiert hatte und 1941 aus dem Land verdrängt worden war, besetzte Litauen nun zum zweiten Mal. Was bedeuteten die militärischen Geschehnisse von 1944 für unterschiedliche Gruppen in Litauen? Wie reagierten die litauische, polnische oder jüdische Bevölkerung?
Dr. Christoph Dieckmann wird in seinem Impulsvortrag die komplizierte Gemengelage in Litauen im Laufe des Jahres 1944 skizzieren, vor und nach dem deutschen Rückzug. In dem anschließenden Gespräch mit Dr. Gintarė Malinauskaitė, moderiert von Dr. Babette Quinkert, werden die bis heute relevanten Fragen der Geschichte und Erinnerung diskutiert.
mit Prof. Dr. Christoph A. Rass (Universität Osnabrück)
und Dr. Aliaksandr Dalhouski (Geschichtswerkstatt Leonid Levin, Minsk)
Im März 1944 deportierte die 9. Armee der Wehrmacht – unter Beteiligung aller ihr unterstellten Divisionen sowie auch eines Sonderkommandos der „Einsatzgruppen“ des SD – in Belarus ca. 50.000 Zivilist:innen aus dem gesamten „Armeegebiet“, darunter viele kranke und ältere Menschen, Mütter mit Kleinkindern und Menschen mit Behinderung, in einen Lagerkomplex westlich des Dorfes Ozarichi und ließen sie dort als „menschliches Schutzschild“ bei einer eigenen „Frontbegradigung“ zurück. Es ging der Wehrmacht darum, „unnütze Esser“ zu beseitigen und zugleich der Roten Armee eine humanitäre Katastrophe zu hinterlassen, um deren Vormarsch zu verlangsamen. Mit den Deportationen bei Ozarichi trat die Kriegführung der Wehrmacht in Belarus in eine neue, systematisch unmenschliche Phase der Radikalisierung ein. Vergleichbare Operationen beabsichtigte die „Heeresgruppe Mitte“ überall entlang der „Front“ zu wiederholen.
Soldaten der Roten Armee befreiten die Überlebenden wenige Tage nach dem deutschen Rückzug und versorgten die Opfer. Es wird geschätzt, dass etwa 9.000 Menschen während oder infolge dieses Kriegsverbrechens starben. In Belarus ist die Erinnerung an die Deportationen bis heute stark präsent.
Aliaksandr Dalhouski und Christoph Rass forschen seit vielen Jahren gemeinsam zu deutschen Kriegsverbrechen in Belarus und haben gemeinsam mit Studierenden 2006 den Film „Ozarichi 1944“ produziert. In einem Vortrag sprechen die beiden Historiker über die Deportationen, die Bedeutung dieses Kriegsverbrechens für Deutschland und Belarus sowie die Erinnerungskultur in beiden Gesellschaften.
mit PD Dr. Kai Struve (Universität Halle-Wittenberg)
und Liana Blikharska (Gedenkmuseum für totalitäre Regime „Territorium des Terrors“, Lwiw)
Für Lwiw und die Westukraine bedeutete der Wechsel von der deutschen zur sowjetischen Herrschaft im Jahr 1944 kein Ende von Krieg und Gewalt. Sie bestimmten das Leben der Menschen in dieser Region auch in den folgenden Jahren. Dafür gab es drei wesentliche Kontexte: 1) der Kampf der UPA, der „Ukrainischen Aufstandsarmee“, gegen die Erneuerung der sowjetischen Herrschaft und der sowjetischen Unterdrückung dieses Widerstands; 2) die zwangsweise „Repatriierung“ von Polen und Ukrainern in beide Richtungen über die neu festgelegte polnisch-sowjetische Grenze; 3) der polnisch-ukrainische Konflikt um die Zugehörigkeit der Grenzregionen. Der Vortrag wird die verschiedenen Gewaltkontexte und ihre Vorgeschichte skizzieren und dabei auch der Frage nachgehen, welche Bedeutung den damit verbundenen historischen Erfahrungen bis in die Gegenwart zukommt.
mit Dr. Kristiane Janeke (Zentrum Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam)
und Dr. Astrid Sahm (Stiftung Wissenschaft und Politik. Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit)
Malyj Trostenez, am Stadtrand von Minsk in Belarus, war die größte Massenvernichtungsstätte auf dem Gebiet der von 1941 bis 1944 deutsch besetzten Sowjetunion. Zwischen 1942 und der Befreiung des Lagers im Juni 1944 wurden dort Zehntausende Menschen – vor allem Juden, aber auch sowjetische Kriegsgefangene und politische Gefangene – auf grausame Weise ermordet. Der Ort und die Verbrechen von Malyj Trostenez sind wenig bekannt. Heute befindet sich hier eine Gedenkanlage, die in zwei Etappen 2015 und 2018 eingeweiht wurde. Ihre Entstehung wurde durch eine internationale Gedenkinitiative unterstützt, an der gesellschaftliche Akteure aus Belarus, Deutschland, Tschechien und Österreich beteiligt waren. Die Ausgestaltung der Gedenkanlage spielt eine wichtige Rolle in den aktuellen Debatten über den Umgang mit der Vergangenheit im heutigen Belarus. Sowohl die historische Aufarbeitung als auch die Gestaltung und der Umgang mit der Gedenkstätte werden teilweise kontrovers diskutiert.
In der Veranstaltung soll es einerseits um die Geschichte des Lagers Malyj Trostenez gehen, andererseits um die aktuellen Entwicklungen rund um den Gedenkort und die heutige Erinnerungskultur.
mit Wiesław Wysok (stellvertretender Direktor des Staatlichen Museums Majdanek)
und Prof. Dr. Stephan Lehnstaedt (Touro University Berlin)
Am 22. Juli 1944 verließen das deutsche Lagerpersonal und der letzte Evakuierungstransport mit über 1.000 Häftlingen das Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek. Damit wurde Majdanek als erstes großes NS-Lager aufgelöst. Nach dem Eintreffen der Roten Armee und polnischer Militäreinheiten wurden schockierende Beweise der von den Deutschen begangenen Verbrechen entdeckt: Asche, Knochen, menschliche Überreste und die Leichen der fast 80.000 ermordeten oder verstorbenen Häftlinge, vorwiegend Juden und Polen. Die tragische Dimension des Ortes wurde darüber hinaus durch die erhalten gebliebenen Spuren der Verbrechen deutlich: Gaskammern, Krematorien, Häftlingsbaracken und Hunderttausende von Schuhen. Ende Juli kamen zahlreiche Einwohner aus Lublin und Angehörige der Ermordeten nach Majdanek, um der Opfer zu gedenken. Knapp einen Monat nach der Auflösung des Lagers entstand die Initiative zur Gründung eines Museums. Majdanek wurde damit zur weltweit ersten KZ-Gedenkstätte, die ihre Arbeit im Herbst 1944 aufnahm.
In der Veranstaltung soll es neben den historischen Ereignissen um das Erinnern und das Gedenken an die Opfer gehen. Der 22. Juli ist der offizielle Gedenktag. In diesem Jahr wird der 80. Jahrestag der Auflösung des Lagers und der 80. Jahrestag der Gründung der Gedenkstätte begangen.
RÜCKBLICK
Die Reihe im vergangenen Jahr 2023
Geschichte im Konflikt. Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg im östlichen Europa
Geschichte als politisches Instrument spielte bereits vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine eine Rolle. Kontroversen um die Deutung von Geschichte sind Teil moderner Gesellschaften. Im östlichen Europa werden sie in den Jahrzehnten nach dem Zerfall der Sowjetunion besonders scharf ausgetragen. Zu lange hatten die Vorgaben des Moskauer Zentrums eine Vorherrschaft beansprucht. Alle Staaten, die seit dem Ende der 1980er ihre Unabhängigkeit behaupteten bzw. sich von der russischen Dominanz lösten, grenzen sich heute in unterschiedlicher Form und Schärfe von den sowjetischen Narrativen ab. Nicht selten sind dabei Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen Bühne bei der Austragung gesellschaftlicher Konflikte.
Das Museum Berlin-Karlshorst geht in der Reihe Geschichte im Konflikt einigen Facetten dieser Debatten und Kontroversen nach.
In sechs Veranstaltungen werden internationale Gäste über die Veränderungen der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im östlichen Europa diskutieren.
Die Veranstaltungssprache ist Deutsch. Für zwei Veranstaltungen gibt es eine Simultanübersetzung.
An den Veranstaltungsabenden sind die Ausstellungen des Museums bis zum Veranstaltungsbeginn um 19 Uhr geöffnet.
Keynote: Irina Sherbakova (Memorial International)
Podium: Jan C. Behrends (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Universität Frankfurt/Oder / Félix Krawatzek (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, Berlin)